I. Einleitung
Von ihrer Rechtssetzungskompetenz im Bereich des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts aus Art. 81 AEUV macht die Europäische Union regen Gebrauch sodass der Normadressat auf eine steigende Vielzahl unionseinheitlicher Rechtsakte zugreifen kann. Gleichwohl erschweren Materien, für deren Qualifikation das Europäische Kollisions- und Verfahrensrecht keine einheitliche Regelung bereithält, die Rechtsanwendung; handelt es sich doch bei den einzelnen Rechtsakten oft um juristische „Vereinheitlichungsinseln“ (so Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1), die untereinander nicht im Zusammenhang stehen. Darüber hinaus ist das Partizipationsinteresse in den Mitgliedstaaten unterschiedlich stark ausgeprägt, wie opt-in- und opt-out-Klauseln aufzeigen.
Profes. Dres. Gisela Rühl und Jan von Hein luden am 10. und 11. Oktober 2014 zur Tagung „Kohärenz im Europäischen Privat- und Verfahrensrecht der Europäischen Union“ nach Freiburg/Br. Im Fokus stand zunächst die Fragestellung, ob und wie eine einheitliche Kodifikation europäischer Rechtssätze zu realisieren ist. Darüber hinaus widmeten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Analyse des status quo unionseinheitlicher Kollisionsrechtskodifikation.
II. Unionseinheitliche Gesamtkodifikation: unde venis, quo vadis?
Prof. Dr. Basedow beleuchtete Herausforderungen und Perspektiven für Kohärenz im EuIPR/EuZPR. Angesichts der Vielzahl von Rechtsakten liege die Abstraktion wiederkehrender Rechtsfiguren in einen Allgemeinen Teil auf der Hand und sei begrüßenswert. Allerdings verhehlte Basedow nicht die politischen Hürden, die eine solche „Rom 0-VO“ zu bewältigen hätte. Vor der Bildung eines Allgemeinen Teils sei zudem zu klären, wie mit Inkohärenzen innerhalb korrespondierender Regelungen umgegangen werde soll, also mit Normen unterschiedlicher Genese, die heterogene Anknüpfungsmomente für identische oder ähnliche Rechtsfragen definieren. Das Instrument der Rechtswahl etwa, das sich wegen seiner weitreichenden Anerkennung „vor die Klammer“ ziehen ließe, weise innerhalb der europäischen Verordnungen Unterschiede auf, insbesondere hinsichtlich Zeit und Form der Rechtswahl, vgl. Artt. 14 Rom II-VO, 3 Abs. 2 Rom I-VO, 5 Abs. 2 Rom III-VO (Zeitpunkt); Artt. 3 Abs. 5 Rom I-VO, 7 Rom III-VO (Form).
Koordinierungsbedarf sieht Basedow auch im Zusammenspiel von EuIPR und EuZPR. So fehle es beispielsweise bei Verkehrsunfällen im Ausland wegen Art. 9 Abs. 1 lit. b) Brüssel I-VO und Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO am Gleichlauf von Forum und anwendbarem Recht wenn der deutsche Unfallbeteiligte gegen einen ausländischen Versicherer im Inland Klage erhebt.
Plänen einer Gesamtkodifikation des EuIPR und EuZPR steht Basedow jedoch skeptisch gegenüber. So haben sich in der Vergangenheit Rechtssetzungsprozesse vor allem aus der Ordnung des Bestehenden heraus entwickelt. Vor einer unionseinheitlichen Kodifikation seien aber unter dieser Prämisse noch zahlreiche Lücken im Regelungskanon zu schließen, beispielsweise im Sachen- und im Güterrecht (vgl. aber KOM(2011) 126 und 127). Schlussendlich sieht Basedow die Verwirklichung der Unionsrechtsvereinheitlichung eher als Ergebnis „wachsender Kodifikation“ an.
In der anschließenden Diskussion befürwortete Prof. Dr. Gruber das Streben nach Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht, wohl um die praktischen Probleme bei der Anwendung ausländischer Rechtsnormen auf Ausnahmefälle und parteiautonome Rechtswahl begrenzt zu wissen. Im Hinblick auf die politischen und teilweise auch in der Heterogenität der nationalen Rechtsdogmen begründeten Hindernisse für eine Gesamtkodifikation trat Prof. Dr. Althammer für mehr Druck vom Unionsgesetzgeber auf die Mitgliedstaaten ein. Prof’in. Dr. Lurger befürchtete, der konsequente Gleichlauf von Forum und anwendbarem Recht führe bei konkurrierenden Gerichtsständen zu einem Klägerwahlrecht des anwendbaren Rechts kraft des Verfahrensrechts, nicht des Privatrechts.
Prof. Dr. Dutta griff in seinem Vortrag die bisherige und geplante Praxis im Europäischen Familien- und Erbrecht auf, verfahrens- und kollisionsrechtliche Regelungen gemeinsam zu kodifizieren. Unter der Fragestellung, ob diese Herstellung sektoraler Kohärenz auf andere Rechtsgebiete übertragbar ist, entlarvte er politische Argumente gegen eine gemeinsame Kodifikation als sachfremd. Dem Verhandlungsaufwand stünden der leichtere Zugang zum Recht, die Realisierung zentraler Auslegungskriterien und die Möglichkeit der besonderen Berücksichtigung der Eigenheiten der fraglichen Regelungsmaterie gegenüber.
Für ein europäisches Regelungswerk könnte das schweizerische IPRG Pate stehen, dessen Vorzüge Prof. Dr. Kadner Graziano mit viel Enthusiasmus hervorzuheben wusste. Freilich offenbarte die Diskussion, dass das schweizerische IPRG – anders als jeder EU-Rechtsakt – nur innerstaatlichen Interessen gerecht werden muss und nicht völkerrechtlicher Genese ist.
III. Bestandsaufnahme der Kohärenz im Europäischen Privat- und Verfahrensrecht
Über das Verhältnis zu Drittstaaten sprach Prof’in. Dr. Domej. Die Brüssel Ia-VO halte mit den Artt. 33, 34 Brüssel Ia-VO nun erstmals Regelungen vor, nach denen mitgliedstaatliche Gerichte zugunsten drittstaatlicher Rechtshängigkeit das Verfahren aussetzen können. Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs sei angesichts des fehlenden Vertrauens nach „außen“ nur mit Vorsicht geboten. Im Verhältnis der EuGVVO zum rev. LugÜ werde Inkohärenz durch eine einheitliche Auslegung vermieden.
Dr. Schulz illustrierte das Verhältnis des EuIPR/EuZPR zur Haager Konferenz. Als problematisch sah sie die Fälle der Konkurrenz beider Rechtssetzungsquellen an, in denen etwa eine Partei aus dem Geltungsbereich der Brüssel I-VO stammt, die andere aus dem Geltungsbereich des HGÜ. Eine einheitliche Kodifikation würde die Rechtsanwendung hier erheblich vereinfachen.
Über das Verhältnis nach „innen“ referierte sodann Prof. Dr. Hess, der konstatierte, dass das Verständnis der Unionsrechtsakte vom Begriff des „grenzüberschreitenden Sachverhalts“ uneinheitlich postuliert werde. Ausgehend vom Wortlaut der kompetenziellen Grundlage in Art. 81 Abs. 1 AEUV und der Brüssel I-VO benennen jüngere Sekundärrechtsakte einen auf die jeweilige Regelungsmaterie zugeschnittenen individuellen Begriff des „grenzüberschreitenden Bezugs“, vgl. nur Art. 3 EuKpfVO, Art. 3 Abs. 1 EuMahnVO/EuBagatellVO.
Prof. Dr. Maultzsch nahm das Potenzial einheitlicher Regelungen zur Parteiautonomie in Bezug. Dabei stellte er dar, dass zunächst die Motive für die Zulassung freier Rechtswahl verschiedener Genese sein können: So ergebe sich das Bedürfnis freier Rechtswahl im Schuldvertragsrecht aus einem „intrinsischen Vorrecht“ der Beteiligten, während sie im Familien- und Erbrecht dem Interesse an objektiven Ordnungskriterien unterworfen sei. Auch Maultzsch favorisiert die Ausarbeitung von Rechtswahlmöglichkeiten, durch die ein Gleichlauf von Forum und anwendbarem Recht zumindest ermöglicht wird.
Ebenfalls über subjektive Anknüpfungsmomente des IPR/IZVR referierte Prof’in. Dr. Wedemann, die die kollisions- und verfahrensrechtliche Verortung juristischer Personen erörterte. Unterschiede zeigen sich hier bei der Klassifikation des Sitzes juristischer Personen, vgl. Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO und Art. 60 Abs. 1 Brüssel I-VO. Für sachlich ungerechtfertigt erachtet sie die Regelung des Art. 22 Nr. 2 Brüssel I-VO, wonach der Sitz abweichend von Art. 60 Abs. 1 Brüssel I-VO nach dem Internationalen Privatrecht bestimmt werde. Stattdessen befürwortet Wedemann auch für Fälle des Art. 22 Nr. 2 Brüssel I-VO eine Anknüpfung an das Registerland.
Für natürliche Personen regte Prof’in Dr. Lurger eine kollisions- und verfahrensrechtliche Anknüpfung an das COMI an, hält aber auch eine nach Rechtsgebieten differenzierte Berücksichtigung von Staatsangehörigkeit, gewöhnlichem Aufenthalt, Wohnsitz oder COMI für möglich, um ihrer sehr vielförmigen Verortung zu begegnen. Ergänzend zu einer unilateralen Festlegung auf ein Anknüpfungsmoment könne zudem eine Ausweichklausel nach dem Vorbild von Art. 21 Abs. 2 EuErbVO formuliert werden.
Dr. Müller zeigte, dass kollisions- und verfahrensrechtliche Regelungen aufgrund ihrer spezifischen Funktion unterschiedliche normative Anknüpfungsmomente aufweisen. So führen die Rechtssätze der Rom I-VO beispielsweise zu einer konkreten anwendbaren Rechtsordnung, während die Brüssel I-VO vielmals mehrere gleichrangige Gerichtsstände vorhalte. Dies sei zwar inkohärent, jedoch nicht zwingend „disharmonisch“, wenn aus der Sicht des Zuständigkeitsrechts zwingende Gründe für eine Differenzierung vorliegen. Der Gerichtsstand am Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO weise jedenfalls wegen der ihm inhärenten materiell-rechtlichen Prüfung der lex causae ein nicht vorhersehbares Anwendungsfeld auf und sei daher im Interesse der Kohärenz abzuschaffen.
Bei den unerlaubten Handlungen gebe es keinen Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht, statuierte Prof. Dr. Schack. Vielfach könne aber mehr Kohärenz dadurch realisiert werden, dass Rechtsbegriffe kongruent gebildet und ausgelegt werden. Eine weitergehende wenngleich anspruchsvollere Lösung erblickt auch Schack in einer kollisions- und verfahrensrechtlichen Gesamtkodifikation oder einer sektoriellen Rechtssetzung, ähnlich der EuErbVO.
Prof’in. Dr. Kieninger informierte im Hinblick auf den Schutz schwächerer Personen im Schuldrecht über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Artt. 6 Rom I-VO und 15 ff. Brüssel I-VO. Die Brüssel I-VO sehe demnach nicht die in Art. 6 Abs. 4 Rom I-VO formulierten Ausnahmen vom Anwendungsbereich vor. Zudem kritisierte sie das weite Verständnis des EuGH vom Begriff des „Ausrichtens“, das dazu führe, dass auch Kleinstunternehmen gegenüber Verbrauchern mit fremden Rechtsordnungen konfrontiert werden, ohne eine Rechtswahl wirksam treffen zu können.
Hinsichtlich des Schwächerenschutzes im Familien- und Erbrecht plädierte Prof. Dr. Gruber für mehr Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht.
Prof. Dr. Renner schätzte den Anwendungsbereich des ordre public-Vorbehalts im Zuge der fortschreitenden Europäisierung als zurückgedrängt ein. Lediglich im Verhältnis zu Drittstaaten komme der Regelung noch Bedeutung zu. Daher hält Renner die entsprechenden Regelungen bei innereuropäischen Sachverhalten für verzichtbar, was jedoch auf geteiltes Echo im Publikum stieß.
IV. Fazit und Ausblick
Von einheitlich gestalteter Kodifikation, geschweige denn einer einheitlichen Gesamtkodifikation ist die legislative Praxis der Europäischen Union noch weit entfernt. Neben den politischen Widrigkeiten, die einem solchen Projekt im Wege stehen, vermag auch die verschiedentlich festgestellte Asynchronizität bislang geltender Rechtsakte die Euphorie zu bremsen. Gleichwohl ist die Herstellung eines höheren Kohärenzlevels im Hinblick auf Normadressaten und Rechtsanwender erstrebenswert, die von einer einfacheren Rechtsfindung profitierten. Vielversprechend erscheint es, aus einem materiell erschlossenen Regelungsgebiet heraus durch Neukodifikation auf eine normative Systematisierung hinzuwirken.